SJV-News

In akuter Gefahr

Ein persönlicher Rückblick auf unsere Online-Matinée zur Pressefreiheit

13.05.2022

Die Online-Matinée zum Internationalen Tag der Pressefreiheit am vergangenen Sonntag habe ich mit großem Interesse verfolgt. Der Beitrag der belarussischen Kollegin ist ein Hilferuf an uns alle!

„Meine Stimme ist alles, was ich noch habe. Meine Heimat, Arbeit und Freunde habe ich verloren.“

Nicht nur ich war den Tränen nahe, als Liubou Kaspiarovich mit diesem einen Satz ihre Lage auf den Punkt brachte. So oder so ähnlich geht es wohl den meisten Journalist:innen im Exil.

Dieser Satz versetzte mich ins Jahr 1995, als ich mein erstes Interview mit Dzemaludin Alic, einem bekannten Schriftsteller und Journalisten aus Sarajevo, führte. Vor mir saß damals auch ein Heimatloser. Hatte Haft und Hass erlebt. Seine weltoffene Vielvölkermetropole gab es nicht mehr. Nach einer Odyssee quer durch Europa war Alic mit seiner Familie schließlich in Saarbrücken gelandet. Der damals Ende 40jährige konnte außer ein paar Goethe-Zitaten kaum Deutsch, war allerdings felsenfest davon überzeugt, dass er, sobald der Krieg zu Ende sei, mit Frau und Kindern in seine Heimat zurückkehren werde. Ein Traum, der nicht in Erfüllung gehen sollte.

Nach dem Interview war ich erschöpft, entsetzt und vor allem fassungslos.

Ein Krieg in Europa? Ein Krieg wegen Religionen? Und das am Ende des 20. Jahrhunderts? Warum?

Ich überlegte: Was wäre, wenn ich im Exil wäre? In einem Land, dessen Sprache mir fremd ist? Hätte ich die Chance, mir als Journalistin ein neues Leben aufzubauen? Hätte ich denn die Kraft, den Mut, das Selbstvertrauen? - Mit diesen Fragen nervte ich die SR Granden Klinkhammer und Schorsch Klein so lange, bis ich unser gemeinsames Sarajevo-Projekt durchgesetzt hatte. Ein ebenso spannendes wie gewagtes Abenteuer:

Im Sommer 1996 kehrte Dzemaludin Alic im Auftrag des Saarländischen Rundfunks für ein paar Wochen in seine Heimat zurück und brachte unzählige Audioaufnahmen von seinen Landsleuten mit. Daraus bastelten wir in wochenlanger Sisyphos-Arbeit eine Bestandsaufnahme der Verhältnisse in Sarajevo – wenige Monate nach dem Friedensabkommen von Dayton.

Unser politisches Feature „Sarajevo - Heimkehr in die Fremde“ wäre ohne die Geduld und den Humor von SR 2 Politikredakteur Dr. Martin Geiling sicher nie gesendet worden.

Erst 2004, als ich selbst zum ersten Mal auf dem Balkan recherchierte, wurde mir klar, was für ein wertvolles Zeit-Dokument mein bosnischer Kollege aus Sarajevo dem SR geliefert hatte. Es sollte seine einzige journalistische Arbeit im Exil bleiben. Zu stark waren da schon seine Depressionen.

Am 4.9.2017 starb Dzemaludin Alic in Saarbrücken. Zuletzt war er Taxifahrer. Dank des Schriftstellerverbandes Saar sind im Gollenstein Verlag zwei seiner Romane auf Deutsch erschienen. Mein Kollege aus Sarajevo wurde gerade mal 70 Jahre.

Warum ich Ihnen/Euch mit dieser alten Geschichte komme? Weil sich Geschichte wiederholt! Deshalb verstehe ich nur zu gut die Kritik von RTL-Korrespondentin Charlotte Maihoff. Sie bemängelte bei der Online-Matinée, dass die Berichterstattung aus Russland und anderen osteuropäischen Ländern viel zu lange vernachlässigt wurde:

„Wir müssen genauer beobachten, besser zuhören, und mehr darüber berichten, was dort passiert.“

Stimmt! Wer hat denn heute noch Sarajevo auf dem Schirm?

Seriöse Hintergrundberichterstattung aus den Krisenregionen dieser Welt ist zur journalistischen Mammutaufgabe geworden. Für alle Medienhäuser. Auch für den kleinen SR. Wer kann und will (sich) hierzulande überhaupt noch langwierige Langzeitbeobachtungen leisten? Nach meiner Erfahrung funktionieren sie nur effektiv und erfolgreich in interkulturellen Teams.

Genau hier liegt die Chance für Exil-Journalist:innen wie Liubou Kaspiarovich. Deshalb bin ich sehr froh, dass sich Ulli Wagner zusammen mit anderen persönlich dafür einsetzt, dass unsere Kolleg:innen ihre journalistische Arbeit fortsetzen können. Ob das gelingt, liegt an uns allen, vor allem aber an den Entscheidungsträger:inen unter uns. Nur Mut, es gibt immer einen Weg!

Christina Merziger

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